Verstand

Was den Menschen von allen anderen Lebewesen unterscheidet ist sein ausgeprägter rationaler Verstand. Die Funktion des Verstandes basiert auf Rationalität. Ratio wird irreführender Weise mit "Vernunft" übersetzt. Tatsächlich bedeutet es "teilen" (rationieren, die Ration) und beschreibt die grundlegende Arbeitsweise des Verstandes - teilen und verbinden:

  1. in der Wahrnehmung Elemente unterscheiden (teilen)
  2. zwischen den Elementen Zusammenhänge herstellen (verbinden)

Da es viele verschiedene Arten gibt, Unterscheidungen zu treffen und auch viele Arten, Zusammenhänge herzustellen, kann der Verstand auf diese Weise Modelle der Realität erstellen. Dabei spielt eine Art von Zusammenhang eine besondere Rolle: die Gesetzmäßigkeiten.

Eine Gesetzmäßigkeit ist etwas, das unter bestimmten Bedingungen immer gleich ist:

Gesetzmäßigkeit: Bedingung ⇒ Konsequenz

Die Kenntnis einer Gesetzmäßigkeit ermöglicht es dem Verstand, durch Herstellen der Bedingung gezielt die Konsequenz herbeizuführen oder durch Meiden der Bedingung eine unerwünschte Konsequenz zu umgehen. Dabei hat der Verstand aber ein grundsätzliches Problem: Seine Modelle sind diskret: auf eine endliche Anzahl von Elementen beschränkt. Die Realität jedoch ist unendlich komplex. Erschwerend kommt hinzu, dass der Verstand nur eine sehr kleine Anzahl von Elementen gleichzeitig verarbeiten kann. Der Verstand behilft sich, indem er für die Modellbildung immer nur kleine Ausschnitte der Realität betrachtet und sich auf bestimmte Aspekte beschränkt, z.B. nur das Skelett oder nur die Nerven oder nur die Muskeln. Das bezeichnet man als Abstraktion. All diese Tricks ändern jedoch nichts daran, dass sich der Verstand mit seiner rationalen Arbeitsweise der Realität nur grob annähern kann.

Die Realität unterteilt sich in einen statischen und einen dynamischen Aspekt:

  1. Der Zustand in einem bestimmten Moment ist der statische Aspekt der Realität.
  2. Das Verhalten beschreibt die Veränderung der Zustände und ist der dynamische Aspekt der Realität.

Die Grundaufgabe des Verstandes ist es, das Verhalten der Realität zu verstehen, um daraus ein Verhalten für sich selbst zu ermitteln, mit dem die eigenen Absichten erreicht werden. Aber wenn der Verstand schon mit dem statischen Aspekt der Realität - den Zuständen - seine Schwierigkeiten hat, so ist er mit dem dynamischen Aspekt der Realität - dem Verhalten - komplett überfordert, denn Verhalten ist kontinuierlich: Es besteht aus einer unendlichen Aneinanderreihung von Zuständen.

An dieser Stelle kommt die Mathematik ins Spiel: Die Formeln der Mathematik ermöglichen es dem Verstand, mit seinen begrenzten Mitteln Unendlichkeit, Komplexität und Kontinuität zu beschreiben: Einige wenige Elemente bilden eine Formel, die eine unendliche Menge von Zuständen zu einem kontinuierlichen Verhalten verbindet. Allerdings lässt sich nur ein Teilbereich der Realität auf diese Weise in seinem Verhalten beschreiben: das elementare Verhalten der Materie:

Die (nahezu) vollkommen exakte Beschreibung des elementaren Verhaltens der Materie durch die Mathematik bezeichnet man als Naturgesetz. Ein Beispiel ist das Gravitationsgesetz. Der Begriff "Naturgesetz" ist irreführend, weil er suggeriert, es handle sich um Gesetzmäßigkeiten ganz allgemein die Natur betreffend. Der Begriff "der Natur" wird aber vor allem mit "dem Leben" assoziiert, während die "Naturgesetze" das elementare Verhalten lebloser Materie beschreiben und nicht das Verhalten des Lebens.

Über die Naturgesetze kontrolliert der Verstand, das elementare Verhalten von Materie. Diese Fähigkeit nutzt er, um einzelne Elemente mit einem gesetzmäßigen Verhalten zu Systemen zu kombinieren, deren Verhalten ebenfalls wieder gesetzmäßig ist. In einem System interagiert eine Vielzahl von Elementen so miteinander, dass sie in ihrer Gesamtheit als Einheit betrachtet werden können. Das Verhalten eines Systems ergibt sich aus dem Verhalten seiner Elemente. Wenn sich alle Elemente eines Systems gesetzmäßig verhalten, dann verhält sich auch das System als Ganzes gesetzmäßig. Das gesetzmäßige Verhalten eines Systems bezeichnet man als Funktion. Die Funktionen ermöglichen es dem Verstand, das eigene Verhalten so zum Verhalten von Systemen zu koordinieren, dass ein Nutzen entsteht. Das ist die Grundlage von Technologie.

Der Verstand ist ein Werkzeug, um materielle Elemente mit gesetzmäßigem Verhalten so miteinander zu kombinieren, dass sie in ihrer Gesamtheit einen Nutzen ergeben, der über ihre Einzelwirkung hinausgeht. Diese Fähigkeit setzt der Verstand auf vielfältige Weise ein:

  1. Naturgesetze ermöglichen es, einzelne Materie-Elemente zu technologischen Systemen zu kombinieren, die in ihrer Gesamtheit auch wieder ein gesetzmäßiges Verhalten haben: die Funktionen.
  2. Die Funktionen ermöglichen es, das eigene Verhalten so zum Verhalten technologischer Systeme zu koordinieren, dass ein Nutzen entsteht ("die Technologie nutzen").
  3. Regeln sind Gesetzmäßigkeiten, denen der Mensch sein Verhalten freiwillig unterwirft, um das Verhalten mehrerer Menschen untereinander zu koordinieren, z.B. in einem Spiel, einer Organisation, einem Staat, einer Familie, einem Unternehmen, einer Musikgruppe usw.

Alles könnte so einfach sein: Eine vollkommen gesetzmäßige Welt, die einer vollkommenen rationalen Kontrolle durch den Verstand unterliegt. Doch leider gibt es kein vollständig gesetzmäßiges Verhalten! (Quantentheorie) Selbst das durch die Naturgesetze beschriebene elementare Verhalten der Materie hat einen winzigen nicht-gesetzmäßigen (zufälligen) und damit unberechenbaren Verhaltensanteil. Bei den Naturgesetzen ist der nicht-gesetzmäßige Verhaltensanteil allerdings so winzig klein, dass er für die meisten praktischen Anwendungen keine Rolle spielt. In Systemen addieren sich jedoch die nicht-gesetzmäßigen Verhaltensanteile der Einzelelemente. Es braucht sich nur ein Element nicht-gesetzmäßig zu verhalten und schon ist auch das Verhalten des Gesamtsystems nicht mehr gesetzmäßig. Das begrenzt die Komplexität von Technologie. (Genaugenommen addieren sich die nicht-gesetzmäßigen Verhaltensanteile nicht ganz, weil es für das Gesamtsystem keine Rolle spielt, ob sich nur ein oder gleich zwei, drei oder vier Elemente nicht-gesetzmäßig verhalten.) Unterm Strich bleibt aber, dass das Verhalten eines Systems immer unberechenbarer wird, je mehr Elemente es hat.

Nun sind technologische Systeme nicht die einzigen Systeme, mit denen es der Mensch zu tun hat. Die Lebensumgebung des Menschen wird ganz wesentlich von Systemen bestimmt, die keine Technologie sind und auch keine Schöpfungen des Menschen:

Diese Systeme sind unendlich viel komplexer als menschliche Technologie. Sie sind so unvorstellbar gigantisch komplex, dass sie nach den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit eigentlich überhaupt kein gesetzmäßiges Verhalten haben dürften. Und dennoch verfügen sie nicht nur über ein gesetzmäßiges Verhalten, sondern darüber hinaus auch noch über höchst wirksame Selbstkorrekturmechanismen. Ich bezeichne sie als super-komplexe Systeme. Das derzeitige Wissen der Menschheit kann nicht erklären, warum diese Systeme überhaupt ein gesetzmäßiges Verhalten haben. Ihr gesamtes Verhalten müsste aufgrund ihrer Komplexität vollkommen zufällig sein. Sie dürften überhaupt nicht stabil existieren. Ihr gesetzmäßiges Verhalten ergibt sich nicht aus dem naturgesetzmäßigen Verhalten ihrer Einzelelemente. Die einzige Erklärung dafür ist, dass diese Systeme über einen verhaltensbestimmenden Anteil verfügen, der für den Menschen derzeit nicht wahrnehmbar ist. Darüber hinaus haben die Gesetzmäßigkeiten super-komplexer Systeme Eigenschaften, die sie von den Naturgesetzen grundlegend unterscheiden:

  1. Das Verhalten super-komplexer Systeme wie dem menschlichen Körper oder dem Ökosystem der Erde ist nur teilweise gesetzmäßig. Es hat einen signifikanten nicht-gesetzmäßigen Verhaltensanteil. Es erscheint teilweise zufällig. Das erkennt man am Einsatz der Statistik zur Beschreibung dieser Gesetzmäßigkeiten. Ihr Verhalten lässt sich nicht durch exakte Formeln vollständig erfassen.
  2. Die Gesetzmäßigkeiten super-komplexer Systeme verändern sich im Laufe der Zeit (Evolution).

Aus Sicht des rationalen Verstandes unterliegt beides dem Zufall. Zufall bedeutet, keine Kontrolle über etwas zu haben. Der Verstand kontrolliert die Gesetzmäßigkeiten im Verhalten der Materie, aber er kontrolliert nicht:

  1. den nicht-gesetzmäßigen Verhaltensanteil (Zufall / zufälliges Geschehen)
  2. die Veränderung der Gesetzmäßigkeiten (Evolution / zufällige Entwicklung)

Der Verstand erklärt "den Zufall" zu einer Tatsache und das ist falsch: Aus menschlicher Sicht ist nicht unterscheidbar, ob ein Ereignis oder eine Entwicklung tatsächlich zufällig geschehen oder ob nur die Bedingungen ihrer Entstehung nicht bekannt sind. (Sokrates: "Ich weiß, dass ich nicht weiß.") Indem der Verstand den Zufall zur Tatsache macht, erklärt er den Teil der Realität für nicht existent, den er rational nicht unter Kontrolle hat. Was rational nicht kontrollierbar ist, darf aus Sicht des Verstandes nicht existieren oder anderweitig kontrollierbar sein, weil sich der Verstand sonst eingestehen müsste, dass seine Arbeitsweise begrenzt ist.

Um nicht mit der Begrenztheit seiner Arbeitsweise konfrontiert zu werden, reduziert der Verstand die Realität auf Materie und ihre Gesetzmäßigkeiten und erschafft so die Illusion, dass alle Probleme auf rein rationale Weise lösbar seien:

Aber

Die Widersprüche zwischen rationaler Weltsicht und Realität verbirgt der Verstand durch unbewusste Manipulationen seines Realitätsmodells und eine selektive Wahrnehmung vor sich selbst. Die Illusion, dass die gesamte Realität rational kontrollierbar ist, verschafft dem Verstand ein ähnliches Gefühl von Macht und Kontrolle, wie es auch echte Erkenntnis tun würde. Deshalb erscheint aus rationaler Sicht jede Behauptung lächerlich, welche die Illusion rationaler Allmacht in Frage stellt. Wahrnehmungen, die zur Illusion im Widerspruch stehen, werden unterdrückt. Der Preis für die Aufrechterhaltung der Illusion ist, dass immer mehr Krisen eskalieren und die Probleme nicht gelöst werden können, denn das ist das Wesen einer Illusion: Sie spiegelt eine Lösung vor, die nicht wirklich eine Lösung ist.

weiter im Text: Evolutionstheorie